Titelbild: Vorstellung von Prototyp-Ideen bei der Zukunftskonferenz im Sommer 2023

Willkommen auf unserem zweiten Blogartikel! Heute geht es um das kleine Wort, das neben vielen anderen Projekten auch unserem Vorhaben seinen Namen gegeben hat: Reallabor. Wenn du nicht zum ersten Mal auf dieser Website bist, bist du bestimmt schonmal darüber gestolpert und hast dich vielleicht gefragt, was das denn nun genau bedeuten soll. Vielleicht warst du aber auch schon in näherem Kontakt mit unserem oder anderen Reallaboren, und hast dennoch nicht ganz verstanden, was wir und andere da tun und warum wir das so tun. In diesem Beitrag möchte ich ein bisschen Licht ins Dunkel bringen und versuchen, dieses Konzept in möglichst einfachen Worten darzustellen. Es soll anschließend auch um die Frage gehen, wie und warum wir hier im Werra-Meißner-Kreis ein Reallabor zum Thema Regionales und Kooperatives Wirtschaften umzusetzen versuchen.

Viel Spaß beim Lesen!


Zur Bedeutung des Begriffs Reallabor

Auf den ersten Blick scheint die Bedeutung des Begriffs Reallabor einleuchtend: Er verbindet die Worte „Realität“ und „Labor“ elegant in einem. Klingt erstmal nach einem Labor, also eine Forschungseinrichtung, in der Realität. Aber was soll das sein? Befindet sich nicht jedes Labor in der Realität? Und um welche Art von Labor handelt es sich?

Der Begriff stammt aus der Nachhaltigkeitsforschung und adressiert im Kern den Bedarf nach einer neuen Art von Laboren und damit auch einer neuen Form, zu forschen, um die sozial-ökologischen Multikrisen unserer Zivilisation zu überwinden. Seit Jahrzehnten wissen wir um den menschengemachten Klimawandel und dass wir die planetaren Belastungsgrenzen in verschiedenen ökologischen Dimensionen überschreiten. Wir wissen auch um die soziale und ökonomische Ungleichheit weltweit und damit die extrem ungerecht verteilten Zugangsmöglichkeiten zu lebensnotwendigen Ressourcen und Bildung. Angesichts des Vorhandenseins dieses Wissens mag es verwundern, warum dann ausgerechnet noch mehr geforscht werden soll, sind doch trotz des Wissens nur unzureichende Schritte hin zur Bewältigung dieser Krisen unternommen worden. Statt weiterer abstrakter Konzepte braucht es konkrete Handlungen, an möglichst vielen Orten dieser Welt, jedoch insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern, in denen auf Kosten Anderer und der Natur gelebt wird und die auch historisch gesehen am meisten zur Entstehung bestehender Ungerechtigkeiten beigetragen haben. An dieser Stelle setzen Reallabore an: Statt der reinen Analyse von Problemen und der Formulierung von Konzepten mit möglichen Maßnahmen, soll Forschung in Reallaboren an reellen Orten Handlungen anstoßen und daraus Erkenntnisse gewinnen, die wiederum an anderer Stelle ähnliche Handlungen unterstützen können. Reallabore schlagen also die Brücke vom abstrakten Wissen zum konkreten Handeln. Aus diesem Handeln tritt neues Wissen darüber zu Tage, wie ein Wandel in die Welt kommen kann, welches dann auch in anderen Kontexten nutzbar gemacht werden kann.

Reallabore zielen nicht nur auf eine andere Form des Wissens ab, sondern unterscheiden sich auch in ihrem Vorgehen von konventionellen Forschungseinrichtungen. In naturwissenschaftlichen Laboren wird in der Regel ein abgeschlossener Raum (eben das Labor) errichtet, in dem die äußeren Umwelteinflüsse gezielt von Forschenden kontrolliert oder gesteuert werden können. Dann versuchen diese, mithilfe von standartisierten Experimenten theoretische Überlegungen oder Modelle anhand ihrer Beobachtungen zu überprüfen. Eine Vielzahl technologischer Innovationen stammt aus solchen Forschungseinrichtungen. Das darin erzeugte Wissen wird dann von Expert*innen ihrer jeweiligen Disziplin weitergetragen und informiert politische Entscheidungsträger*innen, die wiederum die politischen Rahmenbedingungen anpassen, um einzelne technologische Innovationen aus der Nische in die Breite der Gesellschaft zu tragen. In den Bestrebungen für eine nachhaltigere und effizientere Energieversorgung wurden so zum Beispiel Photovoltaik und Wärmepumpen erfunden, weiterentwickelt und durch politische Maßnahmen gefördert.

Der Beitrag technologischer Innovationen für einen Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit ist wichtig, greift jedoch angesichts der Tragweite der Herausforderungen vor denen wir als Menschheit stehen als alleinige Lösungsstrategie deutlich zu kurz. Um nicht weiter unsere Lebensgrundlagen zu untergraben und hinreichende Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, muss ein tiefgreifender Wandel unserer auf Wachstum und Konkurrenz ausgerichteten Lebens- und Wirtschaftsweise erfolgen. Statt technologsicher stehen somit soziale Innovationen (aber auch Exnovationen = das Verlernen von Denk- und Handlungsmustern), also die Veränderung konkreter sozialer Praktiken und Beziehungsweisen im Vordergrund, um diesen kulturellen Wandel zu bewerkstelligen.

Soziale Innovationen entstehen nicht im Reagenzglas. Und sie können auch nicht durch politische Planung gesellschaftlich durchgesetzt werden. Sie werden von Pionieren des Wandels, die im Kleinen etwas anders machen erprobt und entstehen somit aus der Mitte der Gesellschaft. Eine Forschung, die sich der Verbreitung solcher Praktiken widmet, stellt somit gesellschaftliche Akteure und deren praktisches Handlungs- und Erfahrungswissen statt abstrakter Theorien in den Mittelpunkt. Sie sind die eigentlichen Expert*innen, deren Wissen für das Anstoßen und die Verstetigung transformativer Prozesse gebraucht wird und nutzbar gemacht werden muss. Daher kommen in Reallaboren Praxis und Forschung zusammen und können sich so gegenseitig befruchten.

Transformative und transdisziplinäre Forschung in Reallaboren

Ähnlich zu naturwissenschaftlichen Laboren wird auch in Reallaboren ein Rahmen geschaffen, innerhalb dessen mithilfe von Experimenten neues Wissen erzeugt werden soll. Jedoch wird dieser Rahmen entgegen seiner naturwissenschaftlichen Entsprechung keinesfalls als abgeschlossen oder gar kontrollierbar betrachtet. Statt Komplexität zu reduzieren, indem äußere Einflüsse möglichst gering und Randbedingungen für die Experimente möglichst reproduzierbar gehalten werden, wird diese anerkannt und eingeladen. So kann das „Labor“ einen Wohnblock, ein Quartier, eine Stadt oder gar eine ganze Region umfassen. Beobachtungs- und gleichzeitig Gestaltungsgegenstand innerhalb dieser räumlichen Dimensionen sind die sozialen Praktiken der Menschen, die darin leben. Diese werden jedoch keinesfalls zu passiven Versuchsobjekten, sondern zu aktiven Mitgestalter*innen eines kokreativen Wandelprozesses.

Soll also ein Quartier zum Reallabor werden, um darin zu erproben und zu erforschen, wie ein Leben in der Stadt möglichst nachhaltig gestaltet werden kann, so geht es darum, gemeinsam mit den Anwohnenden einen Beteiligungsprozess anzustoßen, in dem sich verschiedene Akteur*innen, von Bewohnenden über Eigentümer*innen bis zu Kommunalvertreter*innen und Forschenden auf Augenhöhe begegnen können und Ideen für konkrete Schritte hin zu einem nachhaltigeren Quartier generieren. Diese Ideen sollen nicht nur erdacht werden, sondern im Rahmen sogenannter Realexperimente von den beteiligten Akteuren auch experimentell umgesetzt, wissenschaftlich begleitet und schließlich evaluiert werden. Die hierfür benötigten personellen wie finanziellen Ressourcen und Infrastrukturen sollen durch das Reallabor mindestens temporär am besten jedoch langfristig zur Verfügung gestellt werden.[1] Ein Beispiel, wie so etwas konkret aussehen kann, findet sich in der Karlsruher Oststadt im „Quartier Zukunft – Labor Stadt“.

Die Rollen der Forschenden in Reallaboren oder auch allgemein von Reallaborpraktiker*innen sind vielfältig und verlassen oftmals das klassische Rollenverständnis von Wissenschaftler*innen. Statt im Sinne einer Transformationsforschung lediglich zu versuchen, Wandelprozesse besser verstehen und beschreiben zu können, nehmen sie eine aktive Rolle ein, indem sie diese Prozesse selbst initiieren, ermöglichen, unterstützen und moderieren. Gleichzeitig übernehmen Sie Vermittlungsrollen zwischen verschiedenen Interessen und Perspektiven oder motivieren, befähigen und beraten andere Akteur*innen praxisbezogen. Sie schaffen zudem die nötigen Arbeitsstrukturen und öffnen Reflexionsräume, um unterschiedliche Wissensbestände zu integrieren.[2] Als Koordination halten sie nicht die Zügel alleine in der Hand, sondern tragen Sorge dafür, dass alle beteiligten Akteur*innen an einem Teil des gemeinsamen Strangs ziehen können. Diese sog. Transformative Forschung lässt den Anspruch einer rein objektiven Wissenschaft hinter sich und nimmt damit auch eine normative Haltung ein. Sie orientiert sich am Leitbild der Nachhaltigkeit und verfolgt ethisch gut begründete und gemeinwohlorientierte gesellschaftliche Ziele.

Die Ziele der transformativen Forschung in Reallaboren lassen sich grob in drei miteinander verschränkte Dimensionen einordnen, die gleichsam verfolgt werden:

  1. das Anstoßen konkreter Nachhaltigkeitstransformationen (Praxisziele),
  2. die daraus hervorgehende Erzeugung von (übertragbarem) Wissen (Forschungsziele)
  3. sowie die Ermöglichung eines gemeinsamen Lernprozesses aller beteiligten Akteur*innen (Bildungsziele).[3]

Die Zusammenarbeit zur Erreichung dieser Ziele erstreckt sich über die Grenzen einzelner wissenschaftlicher Disziplinen ebenso wie über die Grenzen zwischen Gesellschaft und Wissenschaft hinweg. Sie wird deshalb auch als transdisziplinäre Forschung bezeichnet. Wissenschaft und Praxis agieren kokreativ, indem sie gemeinsam eine gesellschaftlich wie wissenschaftlich relevante Problemstellung definieren und daraufhin Prozessschritte sowie Interventionsformate entwerfen (Co-Design), die dann im Reallabor experimentell umgesetzt werden (Co-Produktion).  Die daraus gewonnenen Erkenntnisse fließen einerseits in den wissenschaftlichen und andererseits in den praktischen Diskurs des jeweiligen gesellschaftlichen Problemfelds. Außerdem informiert das generierte Wissen das Projektteam selbst immer wieder in seiner Arbeit. Durch fortlaufende Evaluationsschritte (Co-Evaluation) können die Transformationsbemühungen vor Ort reflexiv angepasst, verstetigt oder gar ausgeweitet werden. Aber auch andernorts kann aus den gemachten Erfahrungen gelernt werden. Die Forschung in Reallaboren erfolgt somit „für die Gesellschaft, in der Gesellschaft und mit der Gesellschaft.“[4]

Der Versuch einer prägnanten Definition für Reallabore findet sich bei Parodi et al. (2016, 16): „Ein Reallabor bezeichnet eine transdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, die dazu dient, in einem räumlich abgegrenzten gesellschaftlichen Kontext Nachhaltigkeitsexperimente durchzuführen, Transformationsprozesse anzustoßen und wissenschaftliche wie gesellschaftliche Lernprozesse zu verstetigen.“

Als Kerncharakteristika führen Wanner et al. (2019) (1) einen Beitrag zur Transformation, (2) Experimente als Kernmethode, (3) Transdisziplinarität als Kernmodus, (4) Lernprozesse und Reflexivität sowie (5) eine Ausrichtung auf Langfristigkeit, Skalierung und Transfer an.

Ihr Prozessschema für Reallabore (Abbildung 1) veranschaulicht den typischen Ablauf eines Reallabors anhand zweier konzentrischer Kreise, die das Reallabor als Ganzes und die darin stattfindenden Realexperimente darstellen und jeweils die Schritte Co-Design, Co-Produktion und Co-Evaluation beinhalten.


Abbildung 1: Zyklisches Prozesschema für Reallabore
(Quelle: Wanner et al. 2019)

Andere Reallaborverständnisse

Das bis hierhin beschriebene Verständnis von Reallaboren entspricht weitestgehend dem deutschsprachigen Diskurs in der Nachhaltigkeitsforschung und dem Verständnis des Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit, auch wenn es auch dort keine allgemeingültige Definition für Reallabore gibt. Daneben bestehen jedoch noch weitere Verständnisse, die dem beschriebenen unterschiedlich nahekommen. So werden in der Förderlandschaft für Reallabore teils unterschiedliche Begriffsverständnisse zugrunde gelegt. Während das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Reallabore als einen „gesellschaftlichen Kontext“ beschreibt, in dem Forschende „Interventionen im Sinne von Realexperimenten durchführen, um über soziale Dynamiken und Prozesse zu lernen“[5], begreift das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima (BMWK) diese als „Testräume für Innovation und Regulierung“. In diesen ist es möglich, technologische „Innovationen für eine befristete Zeit unter möglichst realen Bedingungen und unter behördlicher Begleitung zu erproben, die im allgemeinen Rechtsrahmen an Grenzen oder auf offene Fragen stoßen.“ Anschließend soll aus den Ergebnissen eine Anpassung des Rechtsrahmens erfolgen, um die betreffenden Technologien in die Anwendung zu bringen.[6]

Zudem existiert im internationalen Diskurs eine Vielzahl ähnlicher Konzepte nachhaltigkeitsorientierter Labore. Darunter fallen Sustainable Living Labs, Urban Transition Labs, Sustainable Niche Experiments, Urban Living Labs und Social Innovation Labs, um nur einige davon zu nennen.[7]

Jedes Reallabor kann somit unterschiedlichen Begriffsverständnissen und Definitionen folgen. Zugleich ist es auch so, dass es kein Reallabor gibt, das seinem Ideal in Reinform entspricht. Umso wichtiger ist es deshalb, das eigene Reallaborverständnis zu schärfen und offenzulegen, sich dabei auch kritisch zu hinterfragen und damit einen Dialograum sowohl innerhalb der betreffenden Projektteams als auch zwischen verschiedenen Reallabor-Projekten zu öffnen.

Das Reallabor im Werra-Meißner-Kreis

Das „Reallabor Regionales und Kooperatives Wirtschaften im Werra-Meißner-Kreis“ ging im Gegensatz zu vielen anderen Reallaboren nicht aus einer Forschungseinrichtung hervor. Hier haben sich vielmehr verschiedene politische, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Akteure als Verbundkreis zusammengefunden und darauf geeinigt, den Ansatz eines Reallabors zu verfolgen, um vor Ort Transformations- und Lernprozesse hin zu einer nachhaltigeren und resilienteren oder schlicht zukunftsfähigeren Versorgung in der Region anzustoßen. Mit der Uni Kassel als Teil des Verbundpartnerkreises und verschiedenen studentischen Abschlussarbeiten wurde jedoch auch eine forschungsseitige Projektbegleitung gewährleistet.

Das Projektdesign orientiert sich neben der Definition aus der deutschsprachigen transformativen Nachhaltigkeitsforschung auch an der Arbeit von Zaid Hassan. Dieser beschreibt in „Social Labs Revolution“ drei Kernprinzipien für Social Labs, einem zum Reallabor „verwandten“ Konzept:[8]

  1. Sie sind sozial – das heißt, sie bringen Teilnehmende unterschiedlicher Sektoren (Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft) zusammen, um kollektiv an einer Nachhaltigkeitsherausforderung zu arbeiten, die sie alle betrifft. Sozial heißt auch, dass eine aktive Teilhabe ermöglicht und befördert wird.
  2. Sie sind experimentell – das heißt, Social Labs befördern einen stetigen und fortlaufenden Wandelprozess durch gemeinsames Ausprobieren. Die Teams arbeiten iterativ mit dem Motto „Fail fast. Fail often.“ Anstatt monate- oder gar jahrelang an einem Projektplan zu arbeiten, geht es darum, vielversprechende Ideen im kleinen Maßstab schnell auszuprobieren. Dieser Ansatz wird auch „prototyping“ genannt.
  3. Sie sind systemisch – das heißt, die Ideen und Projekte, die während des Prozesses entwickelt werden, haben den Anspruch, nicht lediglich mit einem Teilproblem oder einem Symptom zu arbeiten, sondern an die Wurzel dessen zu gehen, weshalb Dinge nicht funktionieren / nachhaltig sind.

Unter der Leitfrage, wie im Werra-Meißner-Kreis resiliente und gemeinschaftsgetragene Versorgungsstrukturen aufgebaut und weiterentwickelt werden können, wurde ein weitestgehend ergebnisoffener Experimentier-, Lern- und Beteiligungsprozess gestaltet, der im ersten Blogartikel bereits zusammenfassend dargestellt wurde.

Die soziale Innovation, die dabei im Mittelpunkt stand, ist die des gemeinschaftsgetragenen Wirtschaftens. Diese neue Form des Unternehmer*innentums hat sich bislang vor Allem im landwirtschaftlichen Bereich in Form von solidarischen Landwirtschaften deutschlandweit verbreitet und als tragfähiges Konzept mit vielen Nachhaltigkeitspotenzialen erwiesen.[9] Im Reallabor wollen wir die Verbreitung dieses neuen Geschäftsmodells unterstützen, indem wir konkrete Initiativen als Prototypen bis zur Gründung ihres Unternehmens begleiten und dabei überprüfen, inwiefern sich gemeinschaftsgetragenes Wirtschaften auch auf andere Versorgungsbereiche übertragen lässt. Dabei leitet uns die Vision eines regional zusammenwachsenden Gefüges gemeinschaftsgetragener Unternehmen, das auf lange Sicht die zerstörerischen Strukturen unserer momentan vorherrschenden Wirtschaftsweise ablösen und ersetzen könnte. Wie so ein regionales Netzwerk gemeinschaftsgetragener Unternehmen bzw. ein gemeinschaftsgetragener Wertschöpfungsraum aussehen könnte, wissen wir heute noch nicht. Wir wollen jedoch durch Ausprobieren und Experimentieren eine Idee davon erhalten.

Als Reallabor wollen wir einen Rahmen für diese Experimente im regionalen Kontext des Werra-Meißner-Kreises schaffen. Die Region wird somit zu einer regionalen Transformationsarena, in der modellhafte Schritte hin zu nachhaltigeren und resilienteren Versorgungsstrukturen vollzogen werden sollen. Die hierfür als relevant empfundenen und deshalb in unserem Reallabor verfolgten Forschungs-, Praxis- und Bildungsziele sind in den Abbildungen 2-4 nochmals detailliert aufgelistet.


Abbildung 2: Forschungsziele für das Reallabor WMK.
Abbildung 3: Praxisziele für das Reallabor WMK.
Abbildung 4: Bildungsziele für das Reallabor WMK.

Im Zentrum unserer Tätigkeiten stand von Beginn an die Prozessbegleitung verschiedener Initiativen in deren Gründungsprozess. Zu dieser „Prototypenbegleitung“ hatten wir in einem offenen Partizipationsprozess eingeladen. Die Ideen für solche Prototypen wurden erstmals auf der Zukunftskonferenz im Sommer 2023 vorgestellt. Anschließend wurden einige Teams begleitend beraten, um u.a. ein Finanzierungskonzept für ihre Idee zu entwerfen. Daneben haben jedoch auch Informations- Vernetzungs- und Bildungsveranstaltungen mit verschiedenen Kooperationspartner*innen stattgefunden, die als Teil realweltlicher Interventionen betrachtet werden können. Ein Kernanliegen war es, die Idee kooperativer Wirtschaftsformen als praktikable Konzepte in den einzelnen Versorgungsbereichen Wohnen, Energie und Ernährung sichtbarer zu machen. Hieraus haben sich im Laufe des Prozesses thematisch fokussierte Vorhaben entwickelt. So fanden regelmäßige Treffen im Rahmen eines Stammtisches zu gemeinschaftlichem Wohnen sowie zweier Informationsreihen zu den Themen Nahwärmeversorgung und Pflegebauernhof statt. Ebenso entstand eine Gruppe, die die Gründung eines Ernährungsrates im Werra-Meißner-Kreis angehen wollte. Diese wurde schließlich durch eine Lange Tafel als Intervention im öffentlichen Raum publik gemacht. Forschungsseitig wurde zudem an der Uni Kassel ein Projektseminar mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen abgehalten, die sich an der Erstellung einer Nachhaltigkeitsbilanz sowie einer Potenzialanalyse für die Region beteiligten.

Abbildung 5 zeigt die Übertragung der hier beschriebenenen Projektaktivitäten auf das zyklische Prozessschema für Reallabore nach Wanner et al. (2019).


Abbildung 5: Zyklisches Prozesschema nach Wanner et al. (2019) angewandt für das Reallabor WMK

Sowohl die Prototypenbegleitung als auch alle weiteren Projektaktivitäten wurden fortlaufend reflektiert, um bei Bedarf in der Prozessentwicklung nachsteuern zu können. Beim Symposium, das am 28. September 2024 in Eschwege stattfinden wird, wollen wir dann gemeinsam mit Bewohner*innen des Werra-Meißner-Kreises einen Rückblick auf die vergangenen knapp zwei Jahre Projektarbeit werfen und lose Fäden zusammenbinden. Die gesammelten Erkenntnisse und Ideen für eine nachhaltige und resiliente Versorgung wollen wir abschließend in einem Zukunftskonzept gebündelt darstellen.

Mithilfe einer wirkungsorientierten Projektevaluation wollen wir schließlich den gesellschaftlichen Impact unserer Aktivitäten reflektieren und Lernerfahrungen aus 2 Jahren Reallabor für andere Akteur*innen und Kontexte nutzbar machen. Die Ergebnisse wollen wir unter anderem auf diesem Blog veröffentlichen.

Transformation braucht einen langen Atem – Auch im Werra-Meißner-Kreis

Eine tiefgreifende Veränderung unserer Wirtschaftsweise passiert nicht einfach mal von heute auf Morgen. Es braucht Menschen, die konkrete Wandelprojekte anstoßen und in die Hand nehmen.  Daraus entstehen oftmals langwierige und zuweilen auch frustrierende Prozesse, insbesondere dann, wenn man auf die Veränderungsresistenz etablierter Akteur*innen und Strukturen stößt. Im Werra-Meißner-Kreis durften wir bisher knapp zwei Jahre lang mit Geldern des BMWK ein solches Transformationsprojekt umsetzen. An vielen Stellen ist es uns gelungen, Reallabor-Prinzipien umzusetzen und damit Menschen, die aktiv werden wollten zusammenzubringen, um gemeinsam kleine Schritte hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise zu gehen. Die Zusammenarbeit im Verbundkreis hat uns in der Kommunalpolitik viele Türen geöffnet, die ähnlichen Projekten oftmals verschlossen bleiben. Die Verschränkung von Wissenschaft und Praxis schaffte zudem Synergien, weil relevantes Wissen in den Prozess integriert werden konnte und Reflexionsräume geöffnet wurden, aus denen wir wichtige Erkenntnissee ziehen konnten.

Natürlich gab es auch Misserfolge und Dinge, die wir nicht zufriedenstellend geschafft haben. Aber aus Fehlern, wenn man sie denn so nennen möchte, lernt man ja bekanntlich. Wir hoffen, dass neben uns auch Andere aus unseren gemachten Erfahrungen lernen können. Deshalb ist es uns ein Anliegen, im Rahmen unserer restlichen geförderten Projektlaufzeit Grundsteine zu legen, auf denen zukünftige Transformationsbemühungen hier im Werra-Meißner-Kreis sowie in anderen Kontexten und Regionen aufbauen können.


Fußnoten:

[1] Da die meisten Reallabore als Forschungsprojekte finanziert werden, fließt oft auch das meiste Geld in wissenschaftliches Personal. Die Diversifizierung der Finanzierungsquellen einzelner Projekte oder aber die Etablierung der Finanzierung von Praxisakteur*innen (z.B. auch für investive Maßnahmen) durch Forschungsgelder sind mögliche Wege, auch den Akteuren aus der Praxis neue Handlungsspielräume zu eröffnen.

[2] Rose et al. (2019) unterscheiden zwischen vier Rollen mit jeweils unterschiedlichen Tätigkeiten, die  Wissenschaftler*innen in Reallaboren oftmals auch gleichzeitig einnehmen: Reflektierende Forschende, Facilitators, Change Agents und (Selbst-)reflexive Forschende.

[3] Beecroft et al., 2019

[4] Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit, 2024

[5] BMBF, 2016 (S.16)

[6] BMWK, 2023

[7] Ein Vergleich internationaler Ansätze mit Ähnlichkeiten zum Reallabor findet sich bei Schäpke et al. 2017 (S. 28-53)

[8] Hassan, 2014

[9] Solidarische Landwirtschaften werden im Englischen als Community Supported Agriculture (CSA) bezeichnet. Unternehmen, die die CSA-Prinzipien auf andere Versorgungsbereiche übertragen, erhielten die Bezeichnung CSX, also Community Supported Everything. Einen Überblick darüber, was die wesentlichen Merkmale von CSX-Unternehmen sind, verschafft das Grundlagenpapier von Rommel et al. (2024).

Literaturangaben:

Beecroft, R., Trenks, H., Rhodius, R., Benighaus, C. & Parodi, O. (2018). Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. Springer eBooks, 75–100. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21530-9_4

BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung. (2016). Grundsatzpapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Partizipation. Abgerufen 25.09.2024, von https://kurzlinks.de/m4fh

BMWK – Bundesministerium für Wirtschaft und Klima. (2023). Reallabore – Testräume für Innovation und Regulierung. Abgerufen am 25.09.2024, von https://kurzlinks.de/k2b2

Hassan, Z. (2014). The Social Labs Revolution: A New Approach to Solving our Most Complex Challenges. Berrett-Koehler Publishers, Inc. San Francisco

Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit (2024). Reallabore für Einsteiger:innen. Abgerufen am 25.09.2024, von https://kurzlinks.de/t5rl

Parodi, O., Beecroft, R., Albiez, M., Quint, A., Seebacher, A., Tamm, K., Waitz, C. (2016). Von „Aktionsforschung“ bis „Zielkonflikte“. Schlüsselbegriffe der Reallaborforschung. TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis. 25. 9-18. 10.14512/tatup.25.3.9.

Rommel, M., Mewes, S., von Wulffen, C., Paech, N., & Reiß, K. (2024). Grundzüge gemeinschaftsgetragenen Unternehmertums. Ökologisches Wirtschaften – Fachzeitschrift, 39(1), 30–36. https://doi.org/10.14512/OEW390130

Schäpke, N., Stelzer, F., Bergmann, M., Singer-Brodowski, M., Wanner, M., Caniglia, G., & Lang, D. J. (2017). Reallabore im Kontext transformativer Forschung. Ansatzpunkte zur Konzeption und Einbettung in den internationalen Forschungsstand. (No. 1/2017) Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung

Rose, M., Wanner, M. & Hilger, A. (2019). Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung. Konzepte, Herausforderungen und Empfehlungen.

Wanner, M., Hilger, A., Westerkowski, J., Rose, M., Stelzer, F., & Schäpke, N. (2018). Towards a Cyclical Concept of Real-World Laboratories: A Transdisciplinary Research Practice for Sustainability Transitions. DisP – The Planning Review, 54(2), 94-114

Wanner, M., Stelzer, F., Baedecker, C., Fischedick, M., Liedtke, C., Venjakob, J. & Schneidewind, U. (2019). Reallabore – Perspektiven für ein Forschungsformat im Aufwind. In: In Brief 07/2019

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